Es war Winter, als ich Tarik zum ersten Mal traf. Ich sortierte Kleidung in einem Asylbewerber-Heim und er kam, um Schuhe zu erbitten. Tarik war geflohen wie so viele andere und doch war es sein Blick, der mich festhielt. Ein Blick wie flüssiges Gold unter dichten schwarzen Augenbrauen. Ich gab ihm ein Paar Schuhe, klobige abgetragene Lederstiefel.
Er strich über das Material. "Gute Schuhe." sagte er. Von hinten drängten die Nächsten, Mütter auf der Suche nach warmen Jacken für ihre Kinder, Teenager, hoffend, ein Kleidungsstück zu ergattern, das auch nur im Ansatz ihrem Anspruch an Coolness und Ausdruck der eigenen, in einem fernen warmen Land zurückgelassenen Individualität entsprach. Ich sah Tarik an. "Sonst noch etwas?" Er neigte leicht den Kopf und legte die Hand auf sein Herz. Eine einfache Geste, für die ich doch keine Erwiderung wusste.
Ich nickte und Tarik ging. Ich wollte ihm hinterher rufen, ihm sagen, dass es mir leid tat. Alles. Dass ich hier stand, um mich selbst zu erinnern an die Gräueltaten, die verübt wurden, dort,
in den Ländern, deren Städte in Trümmern lagen. Doch vor mir stand bereits eine Frau mit Kopftuch und den müdesten Augen des Universums und so vergaß ich Tarik über dem Strom der Hilfsbedürftigen. Einer unter Vielen.
Ich kam zu dem Ehrenamt durch meinen Kumpel Niklas. Niklas ist einer von denen, deren Tage mehr Stunden zu haben scheinen als die anderer Menschen. Neben seiner Familie setzt er sich aktiv ein für den Klimaschutz, Naturerhalt, Menschenrechte. Er ist Vorstand unzähliger Vereine, Sprecher auf politischen Debatten und seit dem großen Ansturm von Flüchtlingen mehr als alles: Vorreiter der Flüchtlingshilfe.
Ihm ist es nicht genug, könnte es niemals sein, Menschen mit Kleidung und einer Stelle zum Schlafen zu versorgen. Er fährt zu Europas Außengrenzen, um vor Ort Hilfe zu leisten, von seinem Privatgeld Medikamente zu kaufen, selbst zitternd im Schlamm zu stehen und Zelte hochzuziehen. Böse Zungen behaupten, er würde dort in der Ferne sich selbst suchen. Doch es ist mehr. Niklas strebt nicht weniger an als die Rettung der Welt.
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Was es zuweilen schwierig macht, ihm zu folgen ist die Tatsache, dass jeder Mensch, der weniger tut als er in seinen Augen ein Versager und potentieller System-Unterstützer ist. In den sozialen Netzwerken lässt er seiner Wut und Enttäuschung freien Lauf. "Like mich am Arsch", einer seiner präferierten Ausdrücke, um den Sofa-Helfern ihre eigene Trägheit um die Ohren zu hauen.
Jeder Post eine Anklage. An die Weltgemeinschaft, unser Land, seine Freunde. Diese Anschuldigungen neben den alltäglichen Nachrichten von schlimmsten Verbrechen zu lesen, verfehlt die Wirkung nicht. Ich fühle mich schuldig, werfe mir meinen eigenen Eskapismus vor, den Rückzug ins heimatfilm-brave Privatleben. Sollte ich nicht gerade für meine Kinder auch im Schlamm stehen und anderen Kindern das Leben retten oder zumindest erleichtern?
Müsste ich nicht eigentlich in die Krisengebiete reisen und versuchen zu tun was ich kann, egal zu welchem Preis? Ist es nicht schlicht feige, auf "überweisen" zu klicken oder aber mit journalistisch-geschultem Blick die Lage zu betrachten und die eigenen Gedanken auf virtuelles Papier zu tippen, Worte, die morgen schon nichts mehr Wert sein werden?
Ein Lied aus der Heimat
Ich laufe durch kahle Gänge. Aus den Zimmern folgen mir Augenpaare, träge, ergeben. Das Leben verstreicht in diesen Gängen, die Menschen sitzen wartend und versuchen, Normalität zu suggerieren in einer Situation, die ihnen nimmt, was den Menschen als Grundbedürfnis gleich ist: Die Freiheit.
Vom Ende des Ganges höre ich Musik, fremd und doch seltsam vertraut. Ich folge ihr, den Karton mit Kleiderspenden vor mir hertragend, bis ich am Ende des dunklen Flures zu einem Zimmer komme in dem sich eine Gruppe von Menschen versammelt hat. Der Anblick lässt mich stocken. Dunkelhaarige Männer sitzen dicht beisammen. Ich sehe keine einzige Frau. Das hier scheint die Essenz dessen, was in zahllosen Stammtischrunden als Bedrohungsszenario gezeichnet wird: junge muslimische Männer, die unser Land überfluten.
Das Gefühl, als Frau ausgeliefert zu sein, der Auslegung eines fremden Wertesystems. Doch ich bleibe stehen, kann gar nicht anders. Es ist, als würden die Klänge der Musik direkt zu mir sprechen und erst jetzt sehe ich die Weichheit in den sonst oft so enttäuscht-zornigen Männergesichtern.
Einzelne Tränen laufen über bärtige Wangen. Ein älterer Mann hält eine abgenutzte Oud auf den Knien und spielt, während Tarik in einer uralten Sprache singt, die Augen geschlossen, den Körper vor und zurück wiegend. Die Männer bewegen ihre Körper in seinem Rhythmus, als wären sie alle eins. Nur ich stehe unbewegt, ein Eindringling, wie nackt in einem Gottesdienst.
Ich will mich zurückziehen, ihnen ihren Moment der Verzückung lassen, durch meine Anwesenheit nicht die Fremde in die inszenierte Heimat zurückbringen. Leise bewege ich mich rückwärts, als ich sehe, dass Tarik die Augen geöffnet hat. Noch immer hin und her schwankend finden seine Goldaugen meinen Blick und halten ihn fest, bis sich nach und nach alle zu mir umdrehen. Dunkle, schwarze Männeraugen mustern mich, ohne ein Geräusch.
Warum nicht das Prinzip höher-schneller-besser auf die Weltrettung anwenden?
Ich stehe für einen Moment, dann drehe ich mich um und laufe davon. Ich sage der überarbeiteten Schichtleiterin, dass ich weg muss, was diese mit ergebenem Nicken quittiert und ziehe gerade meine Jacke an, als Tarik zu mir tritt. Wir sehen uns an. Er, zwei Köpfe kleiner, älter als ich, doch unbestimmt alterslos durch die Ruhe, die er ausstrahlt. Ich merke, dass ich zittere. "Was war das für eine Musik?" Er lächelt. "Viel Gefühl?" Nicken. Stille. "Lied aus Heimat. Über die Liebe."
Langsam weicht die Furcht aus meinen Gliedern. "Wunderschön", sage ich. "Bist du Sänger?". Er lacht. Es ist das erste Mal, dass ich dieses Lachen höre, tief, dröhnend, zugleich jungenhaft glucksend. Sein ganzer Körper lacht, der goldene Fluss in seinen Augen scheint zu sprudeln. "Musik ist in allen." Jetzt lache auch ich. "Nicht in mir." Er mustert mich, nun wieder ernst. „Keine Liebe in dir?"
Eine billige Anmache erahnend eile ich mich zu sagen: "Ich bin verheiratet." Er nickt, ein kleines Lächeln. "Heirat schwer wenn Liebe verloren." Ich spüre, wie ich wütend werde. Wer ist er, der kleine Flüchtling mit den abgewetzten Klamotten, über mein Leben zu urteilen!? "Ich muss los." Ich wende mich zum Gehen, stocke. "Es ist nicht so einfach." Ich weiß nicht, weshalb ich das gesagt habe. Tarik blickt mich an. Ich kann den Ausdruck in seinen Augen schwer deuten. Schnell gehe ich.
Wettbewerb der "Guten"
Zuhause setze ich mich an einen Artikel zur aktuellen Lage, in dem Bewusstsein, mich durch die Arbeit von dem Übermaß an Gefühlen abzulenken, die diese Begegnung in mir wachgerufen hat. Ich schreibe darüber, wie Rechtsdenker und Systemprofiteure sich des kapitalistischen Grundgedankens bedienten und damit erfolgreich sind, im Gegensatz zu den häufig zerstrittenen Systemkritikern.
Nazis, die sich überbieten in der Heftigkeit ihres Vorgehens: "Ich habe mehr Asylantenheime angezündet als du." Eine Aufforderung, es denjenigen nachzutun, die mit ihren Heldentaten die Zeitungsseiten füllen. Während die "Guten" sich anklagen, so meine Theorie, verbündet sich die Gegenseite im gemeinsamen Vorankommen. Waffenlieferanten verbringen ihre Zeit nicht damit, ihre Konkurrenten zu diskreditieren, sondern sie verbünden sich, ebenso wie
Rechtsgesinnte und AfD im geeinten Kampf für ihre Ziele.
Ein ausländerfeindlicher Schläger würde sich nicht lamentierend hinstellen, weil die anderen Brutalos in einem Artikel öfter genannt wurden, sondern diese in seiner nächsten Grausamkeiten zu überbieten suchen und sich bis dahin über die Aufmerksamkeit für die Sache freuen.
Die Möglichkeit, dass der andere nicht in jedem Bereich hundert Prozent auf meiner Linie ist und dennoch ein Mitstreiter, wird genutzt, zum nach vorne gerichteten Wettbewerb für die eigene Überzeugung oder das goldene Kalb Profit, während die anderen sich mit ehrenamtlicher Arbeit und dem Zwist über kleine Unterschiede kaputt machen.
Ich habe Niklas als Beispiel genannt dafür, wie eine überkritische Haltung in Menschen, die Ähnliches wollen und denken eine Gegenreaktion hervorrufen kann. Als ich ihm den Artikel zu lesen gab, um seine Meinung einzuholen, hat er sich wiedererkannt, doch angeekelt war er mehr von meinem Fazit, dass es, so lange wir den Kapitalismus als grundlegendes System nicht überkommen könnten, klüger wäre, sich dessen zu bedienen.
Ich schrieb: "Warum nicht das Prinzip höher-schneller-besser auf die Weltrettung anwenden? Ich hab mehr Wale gerettet als du, zeig was du kannst!" Niklas hielt mir meine Kleingeistigkeit vor und auch mein Mann schüttelte den Kopf in stillem Unverständnis über so viel Naivität und Realitätsverschiebung.
Vertrauen in einer Welt wie dieser?
"Wie geht es?" fragt Tarik als wir uns das nächste Mal sehen. Ich stutze. Niemand hier hat mir je diese Frage gestellt - warum auch? Wenn einer verpflichtet ist, die Frage nach dem Wohlbefinden des Gegenübers aufzuwerfen, dann ja wohl ich mit meiner warmen Wohnung, dem ausreichend gefüllten Konto und der gesunden, sicheren Familie. "Gut" sage ich und hoffe vage, dass der Mann vor mir sich damit zufrieden geben wird.
"Du siehst müde aus." Ein Blick in seine mitfühlenden Augen - und mir kommen die Tränen. Das Gefühl, in väterlich umsorgende Arme zu fallen, für einen Moment befreit zu sein aus der Mühle des Alltags mit all seinen Fragen nach Selbstverwirklichung, dem richtigen Leben und der Sorge um den nächsten Monatsverdienst als Freischaffende. Ich zucke die Schultern. "Ich hab keinen Grund, nicht zufrieden zu sein."
Wieder lacht er sein glucksendes Lachen. Das Geräusch durch meine Frage zerbrechend will ich wissen, wie es ihm geht. "Immer gut. Familie auch. Zuhause." Das letzte Wort schwingt durch den Raum, ich sehe seine Wirkung sich fortpflanzen durch die Wartenden. Ich zögere. Dann frage ich es doch. Frage, wie er darauf kommt, es könne ihnen gut gehen, nach allem was er erlebt hat. Hört er keine Nachrichten? Sieht er nicht die Bilder, jeden Tag?
Er blickt mich an. "Vertrauen." Ich lache. Der falsche Ton schrillt durch die Gänge. Vertrauen, wirklich? In einer Welt wie dieser? Tarik lächelt. Dann lädt er mich auf sein Zimmer ein. "Braucht Zeit." Ich verspreche zu kommen, wohl wissend, dass ich diesem Versprechen nicht nachkommen werde. Tarik hält mir die Hand hin, auffordernd. Nach einem Moment nehme ich sie. Ich fühle die harten Schwielen eines langen Lebens und sehe in golddurchwirkte Augen, die mein Versprechen zementieren.
Wenn sie gesagt hätten, wir ziehen gegen Deutschland und die anderen in den Krieg - ich hätte es gemacht.
Als ich im Sommer 2015 nach Athen gereist bin, um die Krise besser zu verstehen, war ich zum ersten Mal seit den Auseinandersetzungen mit dem Hitler-treuen Musiklehrer meiner Grundschulzeit unangenehm mit meinem Deutschsein konfrontiert. Junge Deutsche entschuldigten sich auf Klebe-Zetteln am Flughafen für die Politik ihres Landes und die Griechen mit denen ich sprach, waren voller Wut auf die harten Reformanforderungen.
Ein junger Grieche sagte damals den Satz, der mich sprachlos machte: "Wenn sie gesagt hätten, wir ziehen gegen Deutschland und die anderen in den Krieg - ich hätte es gemacht." Dieses Wort mitten in Europa zu hören war neu und beängstigend. Auf die Frage nach Hoffnung schwieg mein Gegenüber.
"Du siehst doch, wo wir stehen. Griechenland ist am Ende. Es hat seinen Kreis geschlossen, es wird ausverkauft." Er erzählte von sauber gekleideten Menschen, die in Restaurantabfällen wühlen. Wenn er ihnen eine Tüte mit Lebensmitteln bringt, senken sie den Kopf und lehnen dankend ab. "Der Hund hatte Hunger."
"Die Scham macht die Menschen klein." sagt Tarik, als ich auf dem wackligen Holzstuhl in seinem Zimmer sitze, während er mir auf der engen Liege gegenübersitzt und süßen dunklen Tee eingießt. Gerade hat er einen Streit zwischen seinen Zimmergenossen geschlichtet. Auf meine Frage, worum es ging zuckt er die Schultern.
"Um Ehre." Ehre. Stolz. Wie mich das ankotzt. Ich nehme den Tee, der meine Hände wärmt und will trinken. Tarik deutet mir, langsam zu machen, den Tee wahr zu nehmen, bevor ich das Glas an meine Lippen setze. "Ist von mir für dich. Für unser Gespräch." Ich finde das alles mühsam und bin aufgebracht, ohne recht zu wissen, was mich so wütend macht.
Eine überforderte Mutter in Athen meinte, gefragt nach ihrer Vision für eine bessere Zukunft: "Wir sollten uns auf die Bildung fokussieren. Die Kinder und jungen Leute zum selbständigen Denken erziehen damit sie nicht alles einfach schlucken. Das ist vielleicht das Beste an der Krise.
Die Menschen fangen an, nachzufragen, zu lesen, ihre Gehirne zu nutzen." Ob die Vision vom mündigen Bürger tatsächlich realistisch und staatsgewollt sein kann? Sie überlegte. "Kein System das ich kenne bringt die Leute zum Denken." Der Satz taucht auf der Suche nach der Quelle meiner Wut aus meinem Gedächtnis auf.
Eine Vision für das Zusammenleben aller Menschen
Tarik fragt nach meinem Glauben. Ich sage, dass der Glaube für mich das gleiche ist, wie ein starres System: Eine Entmündigung. An was ich denn glaube, wonach ich mich ausrichte, fragt er. Ich überlege lange, während er vor mir sitzt, still, ohne Eile. Etwas verschämt zitiere ich Artikel eins des Grundgesetzes:
"Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt." Ich schweige, hebe den Blick. "Daran kann ich glauben."
Tarik sieht mich an. "Gute Idee." Ich sage, dass es keine bloße Idee ist, sondern eine Vision des Zusammenlebens, für die Gemeinschaft der Menschen. Aller Menschen! Ich rede mich in Rage. Darf man die Ängstlichen der Gesellschaft in die rechte Ecke stellen, ihre Angst zu Fanatismus abstempeln? Was könnte sie von dem aus dem Ruder Laufen ihrer Handlungen bewahren als die klare Vereinbarung des Einhaltens dieses einen Artikels, der alles zusammenfasst?
Und andererseits: Können wir beispielsweise Kriminalität unter Flüchtlingen von ihrer Geschichte unabhängig werten? Wenn man über Jahre und unter Erleiden traumatischster Erfahrungen geflohen ist, mitunter in den europäischen Aufnahmeanlagen noch missbraucht und gedemütigt wurde und dann irgendwo zwischen Mazedonien und Griechenland auf der Straße landet, ohne genug zu essen für die Kinder - was hat man noch zu verlieren? Ich sehe ihn an, mein Atem geht schwer, ich fühle die Not in diesen Gedanken.
Tarik sieht mich an. "Was kann die Einen bewahren? Was haben die Anderen zu verlieren? Die Liebe." Ich stutze. Ist das platt, banal. Eine Verhöhnung meiner tiefsten Lebensfragen. Liebe schön und gut, ich aber suche nach Konzepten, Lösungen. "Was nützt deine Liebe", frage ich, "bei all dem Grauen?" Müde senke ich den Kopf.
Tarik fängt an zu singen. Erst leise, dann gewinnt seine Stimme an Klang. Es ist ein Lied von solcher Schönheit und solchem Schmerz, dass es mir das Herz zusammenzieht. Ich kämpfe gegen Gefühle an, die ich nicht verstehe und die mich zu überrollen drohen. Als er geendet hat, trinken wir schweigend unseren Tee. Erst jetzt fühle ich die Süße, die von diesem einfachen Getränk ausgeht.
"Liebe und Schmerz sind vereint", sagt er. "Leid gehört dazu. Macht stark." Ich erwidere, dass das Schwachsinn ist. Von religiösen oder politischen Führern hervorgebrachte Ideen, um die Menschen klein zu halten. Ich selbst strebe das Überkommen des Leidens an. Tarik lacht sein kleines glucksendes Lachen, das wie ein Fisch über das Meer seiner Augen hüpft.
"Liebe ist das Einzige, was nicht getötet werden kann." sagte Tarik zu mir.
"Wirst du sehr unglücklich." Auf meinen fragenden Blick führt er aus: Wer mir in die Augen sieht, weiß dass ich leide. Im Widerstand dagegen verstärke ich das Leiden und verliere darüber die Liebe. "Aber was ist mit dem Aufbegehren?" Muss ich nicht wie Niklas kämpfen mit aller Kraft für eine bessere Welt?
Wenn ich das Leiden akzeptiere, heißt das nicht aufgeben, wegsehen, am Ende: Versagen? "Kannst du beten", sagt Tarik. Ich sehe ihn an. "Ich wüsste nicht zu wem." Zum ersten Mal erkenne ich Trauer in seinen Augen. Mit seiner schwieligen Hand streicht er mir über das Haar und in dieser einfachen Geste liegt so viel Sanftheit, dass ich wünschte, sie würde ewig dauern.
Ich schlafe schlecht in dieser Nacht. Neben mir liegt der Mensch mit dem ich mein Leben teile und ich frage mich, wann ich ihm das letzte Mal wirklich zugehört, ihm gezeigt habe, dass ich sie noch immer fühle, tief in mir, diese Liebe die allzu oft vergraben liegt unter stillem Vorwurf, Verletzungen und dem alltäglichen Sein. Durch die Dunkelheit dringt Tariks Gesang in mein Bewusstsein und ich fühle die Verbundenheit.
Wenn wir alle Menschen sind, mit unserer eigenen unantastbaren Würde, was trennt uns dann? Tarik und mich, meinen Mann und die Menschen in Griechenland, die flüchtenden Familien und die Protestschreier...? Mahatma Ghandi sagte einst: "Der Friede zwischen den Nationen muss auf dem soliden Fundament der Liebe zwischen Individuen beruhen."
Ghandi aber lebte in einer anderen, einfacheren Welt. Mir erscheint all das was gerade vor sich geht zu brutal und komplex, um es durch individuelle Liebe auflösen zu können. Doch wenn ich an Niklas denke, mit der Übermüdung in seinem Körper und dem Frust in den Augen - kann das die Lösung sein?
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"Dwelling on the negative simply contributes to its power", eine ebenso bekannte wie nachvollziehbare Weisheit. Ist der Umkehrschluss ebenso wahr? Sich auf das Positive zu konzentrieren und es somit verstärken? Oder ist das eine Ausflucht, das Wegsehen, den Kopf in den Sand bunter Fantasiewelten vergraben?
Ich will Tarik fragen, doch als ich zu seinem Zimmer komme, ist die Liege von einem neuen Flüchtling bezogen. Ich frage nach ihm. "Tarik, der Sänger?" Ich blicke in schwarze Augen, in denen die Hoffnung erloschen ist und sehne mich nach dem Gold, das ich verloren habe.
"Liebe ist das Einzige, was nicht getötet werden kann." sagte Tarik zu mir.
Also steht auf, träumt, verändert. Seht nicht weg und tut was ihr könnt.
Vor allem aber liebt. Liebt, auch wenn euch die Welt um die Ohren fliegt.
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