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"Aufruf zur Besonnenheit": Wie sich die DDR eine friedliche Revolution erstritt

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Aktuell wird in Leipzig um den Anteil eines Aufrufs am glücklichen Ausgang des 9. Oktober 1989 diskutiert. Die Frage lautet: Trug der „Aufruf der Sechs" zum Gelingen bei und wenn ja, wie?

Vergegenwärtigen wir uns die Situation im Vorfeld des 9. Oktober in Leipzig. Überall schlug der SED-Staat auf seine Bürger, die die Missstände thematisierten, erbarmungslos ein. Mit friedlichem Umgang hatte dies seitens der Machthaber überhaupt nichts zu tun. Der Friedensanspruch lag völlig einseitig bei den Oppositionellen und der damit sympathisierenden Bevölkerungsmehrheit.

In dieser Situation machten sich viele Menschen Gedanken, wie sie zur Deeskalation beitragen könnten. So auch die Verfasser des Aufrufs zur Besonnenheit, der zur gleichen Zeit wie der Appell von Christoph Wonneberger (Anlage Appell Wonneberger) die Leute erreichen sollte. Das Neue Forum verbreitete einen ähnlichen Aufruf wie Christoph Wonneberger.

Aufruf der Sechs: "Aufruf zur Besonnenheit" (Masur u.a.):
2014-10-17-aufrugbesonnenheit.png

Appell von Christoph Wonneberger:
2014-10-17-Appell.png


Es lohnt die Texte zu vergleichen. Spricht Wonnebergers Aufruf die klare Sprache einer selbstbewussten Opposition, so atmet der Aufruf zur Besonnenheit von Masur u. a. die Sorge von Bittstellern, die den noch allmächtigen Staat fürchten müssen und ihn doch ums Zuhören bitten wollen. Beiden Aufrufen ist der Wunsch gemein, der 9. Oktober in Leipzig möge friedlich ausgehen.

Der 9. Oktober als erster Akt des Volksaufstandes innerhalb der Friedlichen Revolution 1989/90 ist glücklich ausgegangen. Tatsächlich errungen wurde die am Abend des 9. Oktober zu ahnende Freiheit aber erst im zweiten Akt durch die mehr als 120.000 DDR-Bürger, die in der Festung Leipzig, in die ein Hineinkommen schwer und Hinauskommen im Falle der Niederschlagung unmöglich gewesen wäre, den SED-Hoffnungen auf den Erfolg der Einlullstrategie mit den Dialogforderungen den Garaus machten. Erst jetzt begann das Ungeheuer zu wanken.

Viele weitere Demonstrationen im ganzen Land mussten folgen, bis dieses Ungeheuer endgültig den Boden unter seinen Klauen verloren hatte. Die Maschen mit den Dialogen, mit dem Aufruf für unser Land, mit dem Ausgraben der Faschismusvorwürfe, mit der Unterbrechung der Montagsdemonstrationen zum Jahreswechsel 1989/90, mit dem Abbruch der den Demonstrationen vorgelagerten Kundgebungen ab Januar 1990 sollten das Monster wiederbelebe:

2014-10-17-Demonstration.png

Genauso wie aus dem Ministerium für Staatssicherheit/MfS das Amt für Nationale Sicherheit/AfNS gezaubert wurde.

2014-10-17-SPD.png

Welchen Anteil hatten die beiden Aufrufe am erfolgreichen Volksaufstand zwischen dem 9. und dem 16. Oktober 1989 in Leipzig?

Wonnebergers Aufruf wurde 30.000 fach gedruckt. Er sprach nicht die Sprache, die auf SED-
Hardlinerseite als den Untertanen zustehend verstanden werden konnte. Das Drucken und Verteilen von Flugblättern noch dazu in so einer gewaltigen Zahl war im kommunistischen Staat ein Affront ohne Gleichen.

Nehmen wir den sozialismusfreien Inhalt hinzu, die Anklage wäre auf Höchstmaß gegangen. Für den Verfasser wie für die Verteiler.

Der Aufruf der Leipziger Sechs wurde in einer Sprache formuliert, die nur wenige in der Bevölkerung elektrisiert hätte, wohl aber im verunsicherten SED-/MfS-/Militärkomplex zu verstehen war. Zumal die Weiterführung des Sozialismus zugesagt wurde. Ob alle Verfasser das mit dieser Weiterführung des Sozialismus tatsächlich so meinten, können nur diese selbst erklären.

Auf jeden Fall war es die Rückversicherung, nach einem blutigen Ausgang die notwendige Loyalität nachgewiesen zu haben. Dies zu verurteilen, steht mir nicht an.

Überleben möchte jeder. Auf jeden Fall war die kommende Kampagne des Dialogs, um die Leute von der Straße zu holen, bereits in diesem Aufruf angelegt. Was wiederum ein Indiz für das ernstgemeinte Versprechen auf Weiterführung des Sozialismus sein könnte. Bestätigung erfährt diese Vermutung durch den Stadtfunkaufruf vom 16.10.89 von Jochen Pommert, einem der Mitunterzeichner des Masurschen Aufrufs vom 9.10.89.

Darin formulierte er mit klaren Worten „Dafür ist die Strasse weder Ort noch Mittel, deshalb bitten wir Sie: Gehen Sie besonnen und ruhig auseinander, damit gemeinsames Handeln möglich wird" (Anlage Pommert aus Die Friedliche Revolution/Hollitzer, Sachenbacher 2012).

2014-10-17-Presse.png

Darauf antwortete das neue Forum: „Laßt euch nicht einschläfern!" und traf damit den Nerv der Bevölkerung.

Was war denn nun die Wirkung der beiden Aufrufe vom 9.10.89? Von den 30.000 Wonnebergschen Flugblättern wurden bestimmt sehr viele von sehr Vielen hungrig gelesen und weitergegeben. Wonnebergers Appell dürfte an diesem Abend sehr bekannt gewesen sein.

Masurs Aufruf wurde in vier Leipziger Kirchen verlesen und im Stadtfunk übertragen. In den Kirchen wurde unterschiedlich Kenntnis genommen - mit hoher Intensität wohl eher vom mit einsitzendem MfS-Personal als von der Opposition.

Auf dem Karl-Marx-Platz war die Übertragung akustisch miserabel. Eigentlich kam nur der Name Masur wirklich gut rüber. Im Bereich der Lautsprecher stehend, vermochten die Menschen, Bruchstücke aufzunehmen.

Zudem gehörte Masur zum Establishment. Im Bereich der Demonstranten wurde lediglich der Aufruf an sich als Signal positiv aufgenommen. „Wenn die sich das trauen, haben die bestimmt Rückendeckung. Und wenn die Rückendeckung haben, könnte es heute genauso gut ausgehen wie am Samstag vorher in Plauen und am Vorabend in Dresden?".

In diesem Sinne hatte der Aufruf dort, wo er von den Demonstranten gehört werden konnte, sicher auch beruhigende Wirkung. Es war ja nicht bekannt, dass Die keine Rückendeckung hatten. Das war im SED-Staat nun wirklich nicht vorstellbar. Dass Masur seine Kapellmeisterei riskieren würde? Nein, soweit ging der Glaube nicht.

Dagegen war Masurs Text sicher den staatlichen, auf Terror geeichten Einsatzstellen bekannt. Die waren ohnehin höchst verunsichert und Informationen waren rar. Gorbatschow verweigerte den Panzereinsatz (anders als zur gleichen Zeit im Baltikum). Damit waren die Hardliner ganz allein zu Haus. Ohne die Sowjets unterstützend im Rücken, ohne Direktiven von ganz oben. So was ging ja nun gar nicht!

Und ganz wichtig in dieser Betrachtung: die unbekannten Wesen, diese wehrpflichtigen Bereitschaftspolizisten, Soldaten und einsatzmüden Kampfgruppenhundertschaften, die mehr oder weniger bis auf ihre Kommandoebenen zu „Wir sind das Volk" gehörten.

Die hätte ihre Waffen vielleicht in die Richtung der Befehlshaber gerichtet? Unsinn? Wer NVA und Grenztruppen als Wehrpflichtiger von innen kennenlernen musste, wusste, wie verhasst das Offizierskorps dieser in puncto Drill, Disziplin und Rechtlosigkeit der Wehrmacht ähnlichen Untertanenarmee war.

Der Staatsbürger in Uniform war in der NVA, in den Grenztruppen genauso unbekannt wie die Charta der Menschenrechte. Meine persönlichen Erfahrungen lassen jedenfalls den Schluss nicht zu, dass das DDR-Offizierskorps zu humanen Überlegungen in der Lage war. Das waren ganz schlimme Scharfmacher und Knechter ihrer rechtlosen Untergebenen.

Machen wir uns nichts vor. Die Angst wechselte am 9. Oktober die Seiten. Nur deshalb kam der Einsatzbefehl nicht! Dafür ist weder der SED, noch der Stasi, noch dem Militär zu danken. Allenfalls zu gratulieren. Weil der eigenen Verunsicherung, der eigenen Angst und der eigenen Unversehrtheit Raum gegeben wurde.

Sicher spielte dabei ebenso eine Rolle, dass diese konterrevolutionären Demonstranten auf einem höherem zivilisatorischem Level daherkamen und nicht auf Rache aus waren. Was im umgekehrten Fall mitnichten so anzunehmen war.

Der Leipziger Volksaufstand zwischen dem 9. und dem 16. Oktober mit zusammen vielleicht 200.000 Teilnehmern hatte der Freiheit noch unsicheren Raum verschafft. Der Sicherheitsapparat war in der Defensive, hatte aber noch lange nicht kapituliert. Der SED-Staat mit seinem Kasernensozialismus wankte, vom Weichen war er gefühlte Lichtjahre entfernt.

Regional sehr unterschiedlich entwickelt, nahmen noch im Januar 1990 den aufrechten Gang Übende all ihren Mut zusammen und gingen auf die Straße. Die Angst vor der Diktatur saß unheimlich tief.

Es bedurfte des DDR-weiten Demonstrierens bis zum Einsetzen der Runden Tische, bis zu den Besetzungen der MfS-Trutzburgen in Erfurt und Leipzig, bis zu den ersten freien Wahlen, bis zur Erkenntnis, dass es nur die Deutsche Einheit sein würde, die die Errungenschaften des Volksaufstandes sicher schützen können würde.

Dies alles war für die Verfasser des Aufrufs zur Besonnenheit am 9. Oktober selbst sicher in der gesamten Tragweite nicht absehbar. Die Grundfesten zu ändern, dies lag dem Text nach zu urteilen, keineswegs in deren Sinne.

Sie ahnten nicht, dass die weitere Entwicklung wie im Fluge über sie hinweggehen würde. Die Ahnung von Freiheit am Abend des 9. Oktober konnte nicht genügen. Der Artikel 1 der DDR-Verfassung musste gestrichen, die „Diktatur des Proletariats" samt ihrer Grundlagen musste gestürzt werden. Dies war weit mehr als die Verfasser des Aufrufs im Blick hatten.

So wie Gorbatschow 1985 nicht antrat, die Sowjetunion abzuschaffen, so traten auch die sog. SED-Reformer nicht auf den abfahrenden Zug der Friedlichen Revolution auf, um die DDR verschwinden zu lassen oder gar den sowjetischen Truppen mittels der Deutschen Einheit in deren Heimat zurück zu helfen.

Masur, Lange, Mayer waren mutig. Wie mutig, das ist heute angesichts des bittstellenden und den Sozialismus nicht in Frage stellenden Aufrufs zur Besonnenheit fair nicht mehr zu rekonstruieren. Den Mut sollten wir stehen lassen.

Gibt dieser doch den Blick auf die Fratze des Sozialismus frei: Wenn diese ausgewogenen, nichts in Frage stellenden Worte bereits fürchterliche Rache nach sich hätten ziehen können, was war das dann für ein monströses Freiluftgefängnis?

Im Gegensatz zur tatsächlich begrenzten Bekanntheit des bis nach dem 16.10. faktisch unter öffentlichem Verschluss gehaltenem Aufrufs der Sechs, der es aus Versehen nur in die Blockparteizeitung Union schaffte, wurde dieser erstmals am 19. Oktober 1989 in der Moritzbastei historisierend abgefeiert und als neue Chance für einen besseren Sozialismus beworben. Eine Hoffnung vom Podium: Dialog statt Demonstration, runter von der Strasse.

In diesem Sinne wurden die Dialogveranstaltungen der kommenden Wochen strategisch angelegt. Der Aufruf zur Besonnenheit mahnte den Ersatz der Demonstrationen durch den Dialog an und sah diesen nicht etwa als Begleitung des soeben erworbenen aufrechten Ganges der Obrigkeitsstaatsbewohner.

Die endlich aufrecht Gehenden sollten sich schnell wieder setzen. Kritik ja, grundlegende Änderungen nein. Diese Finte hatte keine Chance.

Die Bevölkerung roch den Braten und spürte zunehmend, dass noch weit mehr möglich war. So wurden zwar landauf, landab viele Dialoge mit sehr vielen auch harschen Kritiken durchgeführt, doch gingen oft auch dieselben Leute am nächsten Montag wieder auf die Straße. Dem moderierten Ausquasseln allein wurde nicht getraut. Die Diktatur war noch lange nicht erlegt.

Weit mehr Leute gingen aus rationalen Gründen von vornherein nicht in diese Dialoge mit der DDR. Wer verschießt schon gern sein Pulver am falschen Ort? Der SED im Gewandhaus folgenlos die Meinung geigen oder montags in gewaltigen Demonstrationen die überraschenden Forderungen öffentlich machen?

Nicht vom Gewandhaus aus wurde die Ostberliner Politik im Herbst 1989 bestimmt. Diese Aufgabe erledigten Montag für Montag die hunderttausenden Demonstranten in der gesamten DDR und die aus ihren Reihen hervortretenden Sprecher.

Der Aufruf Zur Besonnenheit der Leipziger Sechs war ein Aufruf zur Gewaltlosigkeit und Bewahrung der DDR. Wonnebergers Aufruf stand für Gewaltlosigkeit und für grundsätzliche Änderungen.

Seien wir uns selbst dankbar, die Freiheitsintentionen Christoph Wonnebergers geteilt zu haben. Mit dem Aufruf zur Besonnenheit der Leipziger Sechs stünden heute Putins Truppen in einer schon längst wieder bleiernen DDR. Und genau das wollten einige dieser Aufrufer vielleicht doch wirklich nicht, oder?

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