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Gewaltexzesse Jugendlicher: Warum wir Zivilcourage trainieren müssen

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Ein Polizeibeamter in Zivil geht gegen Mitternacht die Treppe zur U-Bahn-Station hinunter. Plötzlich hört er wie eine Frau verzweifelt „Die schlagen ihn tot" ruft. Er hetzt auf den Bahnsteig und sieht, wie zwei junge Männer brutal auf einen am Boden Liegenden eintreten.

Immer wieder schlagen und treten sie zu. Mit unglaublicher Kaltblütigkeit, wie im Rausch, quälen sie ihr wehrloses Opfer fast zu Tode. Keiner der umstehenden Passanten tut etwas, doch der Polizist zögert nicht. Er greift ein und wird nur Sekunden später von kräftigen Fausthieben niedergestreckt.

Nach einem kräftigen Stoß der Jugendlichen landet er unsanft auf dem Gleisbett. Als er zu sich kommt, sieht er die heranrasende U-Bahn, doch zu spät. Trotz Vollbremsung kommt der Zug nicht mehr rechtzeitig zum Stehen. „Ich hab doch gebremst, das habt ihr doch gesehen?", ruft der Zugführer verzweifelt.

Der Polizeibeamte überlebt mit viel Glück. Das eigentliche Opfer jedoch - ein junger Musikstudent - erliegt im Krankenhaus wenig später seinen schweren Kopfverletzungen.

Gewaltexzesse von Jugendlichen sind kein Einzelfall

Der Kölner Tatort „Ohnmacht" schockierte vor einigen Wochen mit der Darstellung brutaler Gewalt von Jugendlichen, die selbst vor deren Erziehungsberechtigten nicht Halt machte.

Und das ist bei weitem nicht nur Fiktion. Fast täglich werden wir mit Meldungen über Heranwachsende konfrontiert, die auf dem Schulhof Klassenkameraden erpressen oder verprügeln, in der U-Bahn ausländische Fahrgäste anpöbeln, brutal zusammenschlagen oder Rentner ausrauben.

Zurück bleiben wir mit den Fragen, die wir uns immer wieder stellen: Was passiert in einer Gesellschaft, in der Zivilcourage nur etwas für die mutige Minderheit ist, während die Mehrheit aber bei Gewalttaten untätig bleibt und wegsieht.

Wir wollen wissen, woher die Brutalität und Gewaltbereitschaft einiger Jugendlicher kommt, die sie auf wehrlose Menschen einprügeln lässt. Und wir suchen Antworten darauf, ob die derzeitigen Strafen im Jugendstrafrecht tatsächlich ausreichend sind und abschreckend genug wirken.

Was wird aus einer Gesellschaft, in der Bürger wegsehen?

Was aus Gesellschaften wird, in denen Menschen wegsehen, sich wegducken und lieber nichts tun, hat die Geschichte gezeigt.

Wir brauchen den Mut des Einzelnen, der unerschrocken seine eigene Meinung vertreten kann und eingreift, wenn andere Menschen in Not geraten. Wir brauchen Zivilcourage, die damit beginnt, genau hinzusehen und wahrzunehmen, was passiert, statt wegzuschauen. Sie ist für unsere demokratische Gesellschaft unerlässlich.

Und die gute Nachricht ist: Wir können trainieren hinzusehen und mutig zu sein. Natürlich ist es einfacher, sich abzuwenden, weil wir Angst haben, uns zu blamieren, wenn sich herausstellt, dass wir eine Situation zu dramatisch eingeschätzt oder unsere Fähigkeiten als Helfer überschätzt haben.

Manchmal trauen wir uns auch nicht, weil wir nicht wissen, was zu tun ist. Dazu kommt die Aufregung, denn in einer solchen Ausnahmesituation klar und rational zu denken, ist schwierig. Also warten wir ab, riskieren nichts - und retten im Zweifel lieber unsere eigene Haut als das Leben eines anderen. Doch das muss nicht sein, denn Zivilcourage können wir lernen, indem wir uns mit Gewalt-Szenarien auseinandersetzen, bevor sie geschehen.

Wenn wir Zeuge einer Gewalttat werden, ist es meist zu spät. In diesem Augenblick müssen schnell Entscheidungen getroffen werden. Es bleibt keine Zeit zu überlegen, was man tun will, keine Zeit, genau abzuwägen, ob man lieber zusehen, wegschauen oder eingreifen will.

Blitzschnell müssen wir entscheiden, ob wir das eigene Wohl und die eigene Unversehrtheit über den Schutz des Opfers stellen und in sicherem Abstand verharren oder ob wir das Opfer schützen und uns in Gefahr begeben wollen.

Häufig führt gerade dieser unauflösbare Widerspruch zwischen der Sorge um die eigene physische Unversehrtheit und dem Anspruch des Opfers auf Hilfe jedoch dazu, dass wir paralysiert sind und nicht mehr handeln können.

Weil wir selbst nicht zur Zielscheibe der Gewalt werden wollen, tun wir im Zweifel lieber nichts, damit wir nicht das Falsche tun. Aber ist das wirklich eine Lösung?

Mindestens einmal werden wir Zeuge oder gar selbst Opfer einer Gewalttat

Gerade angesichts der wachsenden Zahl von Gewalttaten ist es doch sehr wahrscheinlich, dass wir zumindest ein- oder gar mehrmals in Verlauf unseres Lebens entscheiden müssen, ob wir einem bedrohten Menschen beistehen wollen oder lieber untätig bleiben.

Und genau deshalb sollten wir das Szenario einmal in Ruhe in Gedanken durchspielen und überlegen, was wir tun können, wenn wir in eine solche Situation geraten. Dafür sollten wir uns nicht nur mit unseren eigenen Ängsten auseinandersetzen, sondern uns zugleich vorstellen, wie unser Verhalten auf das Opfer und auf die Täter wirken könnte.

Stellen Sie sich vor, Sie sitzen in der S-Bahn und werden Zeuge, wenn ein junger Mann mit Migrationshintergrund von zwei glatzköpfigen Männern angepöbelt und angegriffen wird. Was tun Sie?

Handeln, aber wie?

Für die Antwort auf diese Frage, ist es auch wichtig, den rechtlichen Rahmen zu kennen.

Entscheiden wir uns fürs Eingreifen, müssen wir auf die Verhältnismäßigkeit der Mittel achten, wie es Juristen formulieren. Das heißt, wir dürfen nur in dem Maß Gewalt anwenden, die zur Abwehr eines Angriffs unmittelbar erforderlich ist.

Es gilt der sogenannte Notwehr- bzw. Nothilfe-Paragraph, in dem es heißt: "Notwehr ist diejenige Verteidigung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen, rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwehren. Die Verteidigung muss im Verhältnis zum Angriff stehen."

„Unterlassene Hilfeleistung" dagegen steht unter Strafe (§ 323c Strafgesetzbuch). „Wer bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not" nichts tut, obwohl ihm das zuzumuten wäre, muss mit Gefängnis rechnen.

Bei aller Paragrafen-Reiterei sollten wir jedoch eines im Auge behalten: Zivilcourage kann man nicht per Gesetz verordnen, sondern sie muss in den Köpfen der Menschen verankert werden.

Wenn Sie nun Ihre Entscheidung getroffen haben, und einmal Zeuge einer Gewalttat werden, sollten Sie sich an den Handlungsfaden halten, den die Initiative „Augen auf!" erarbeitet hat.

  1. Zögern Sie nicht, handeln Sie sofort! Je länger Sie zögern, desto schwieriger ist es, einzugreifen.


  2. Versuchen Sie zunächst die Täter zu verunsichern und Öffentlichkeit herzustellen, indem Sie laut und schrill „Hilfe Überfall" oder Ähnliches schreien.


  3. Erzeugen Sie Aufmerksamkeit, indem Sie Umstehende und Schaulustige persönlich ansprechen und Sie mit in die Verantwortung nehmen.


  4. Holen Sie Hilfe! Nehmen Sie Ihr Mobiltelefon, rufen Sie Polizei und Notarzt oder betätigen Sie die Notbremse in der Bahn. Versuchen Sie sich signifikante Merkmale der Angreifer Sprache (Akzent etc.), Kleidung, Gesichter für die spätere Wiedererkennung und Identifizierung einzuprägen.


  5. Halten Sie Blickkontakt zum Opfer oder sprechen Sie es direkt an.


  6. Spielen Sie nicht den Helden und begeben Sie sich nicht unnötig in Gefahr. Fassen Sie Täter niemals an, lassen Sie sich nicht aus der Reserve locken und provozieren Sie Täter nicht.


  7. Versuchen Sie ruhig zu bleiben. Konzentrieren Sie sich darauf, das zu tun, was Sie sich vorgenommen haben.


Zivilcourage ist erlernbar

Zivilcourage ist also trainierbar. Man kann die Angst vor dem Täter durch entschlossenes und zielsicheres Handeln, wie es die Initiative „Augen auf" beschrieben hat, in den Griff bekommen.

Und doch stellen sich Wissenschaftler immer wieder die Frage, ob es nicht etwas gibt, das Helden mit Zivilcourage von den Mutlosen unterscheidet, die in nichts hineingezogen werden wollen?

Seit einigen Jahrzehnten bereits gibt es dazu Untersuchungen, Verhaltensexperimente und Befragungen. So haben US-Wissenschaftler beispielsweise festgestellt, dass die Hilfsbereitschaft bei Menschen auf dem Land tatsächlich größer ist als in der Großstadt.

Das Gleiche gilt für Angehörige von Berufsgruppen, die viel mit Menschen zu tun haben, dazu gehören Busfahrer, Lehrer, Krankenschwestern und Kindergärtnerinnen.

Wenig herausgekommen ist dagegen bei der Suche nach einer "Retter-Persönlichkeit": Dass der Impuls einzugreifen und Leben zu retten eine Charaktereigenschaft sein könnte, glaubte man früher. Heute hingegen ist es umstritten. Selbst Menschen, die im Dritten Reich Juden versteckten oder im Widerstand waren, Menschen also, denen US-Soziologen eine "altruistische Persönlichkeit" attestierten, werden heute eher als Getriebene der Umstände gesehen.

Die Helden der Nazi-Zeit hat wohl vielmehr verbunden, dass "sie Handlungsspielräume wahrgenommen haben, wo andere keine sahen". Das glaubt zumindest der Sozialpsychologe Harald Welzer.

Die Persönlichkeit spielt hier also allenfalls eine untergeordnete Rolle. Welzer fand dagegen heraus, dass vielmehr die Situation entscheidet, ob Menschen zu Lebensrettern werden oder Beobachter bleiben.

Waren Menschen allein und wussten, dass es ganz allein auf sie ankommt, handelten sie öfter, konnten sie dagegen in der Menschenmenge abtauchen, waren sie meist gelähmt und taten nichts.

Besinnen auf humane Grundwerte

Vielleicht gibt es aber noch etwas, das Forscher bei der Suche nach Antworten bislang außer Acht gelassen haben - nämlich unsere humanistischen Grundwerte. Es sind Antworten, die jeder ganz persönlich für sich auf die entscheidenden Fragen des Lebens gefunden hat.

Diese Werte leiten unser Handeln, sie sind moralischer Anspruch und Verpflichtung zugleich. Jedes Leben ist einmalig und unwiederholbar. Und genau deshalb liegt es an uns selbst, ethische und moralische Entscheidungen zu treffen.

Wenn wir uns öfter auf Werte wie Nächstenliebe, Toleranz, Hilfsbereitschaft und Solidarität mit Schwächeren besinnen, werden wir die richtigen Entscheidungen treffen, auch und gerade in Situationen, in denen andere unserer Hilfe bedürfen. Auch Eltern, Schulen und die Medien sind hier in der Pflicht.

Ursachen jugendlicher Gewalt

Zivilcourage ist eine der Antworten, die wir auf Gewalt geben können. Doch was sind die Gründe für jugendliche Gewaltexzesse und Brutalität? Eine einfache Antwort darauf gibt es nicht. Zweifellos sind die Ursachen für eine mehr oder weniger gestiegene Jugendgewalt ausgesprochen komplex, einfache Erklärungsansätze - dass es beispielsweise an den Gewaltbildern liegt, die Medien vermitteln, dem Konsum von Gewaltvideos, oder einem vermehrten Alkoholkonsum - haben nur eine begrenzte Erklärungskraft.

Das soziale Umfeld, die Familie (häusliche Gewalt, fehlende Beaufsichtigung und Anleitung durch Eltern) und freundschaftliche Verbindungen zu gleichaltrigen Straftätern haben einen wesentlich größeren Einfluss auf die Entwicklung Jugendlicher.

Die Weltgesundheitsorganisation sieht gewalttätiges Verhalten Jugendlicher vor allem in der Persönlichkeit - in der Impulsivität, aggressiven Einstellungen oder Überzeugungen - und in schulischem Versagen begründet.

Auch psychische Störungen spielen eine Rolle. Je nach Untersuchung schätzt man, dass 60 bis 80 Prozent der Jugendlichen in Haftanstalten an mindestens einer psychischen Störung leiden: Dazu gehört vor allem die posttraumatische Belastungsstörung, die meist durch Missbrauch, elterliche Vernachlässigung oder andere traumatische Erfahrungen verursacht wird.

Junge Straftäter, die unter dieser Störung leiden, reagieren auf dauernde Verletzungen mit Aggressivität. Bei einem Großteil der wegen Delinquenz aufgefallenen Jugendlichen entwickelt sich also die impulsive Aggressivität auf dem Boden einer posttraumatischen Belastungsstörung.

Das zeigt, dass die Tendenz andere zu verletzen offenbar in erster Linie aufgrund eigener Verletzungen entsteht. Nach dem Prinzip „Auge um Auge, Zahn um Zahn" holen jugendliche Straftäter zum hilflosen und wahllosen Gegenschlag gegen alle Menschen aus. Die Aggressionen gegen die Menschen, die sie enttäuscht und gequält haben, lassen sie dabei stellvertretend an anderen ab.

Doch die posttraumatische Belastungsstörung ist nicht die einzige psychische Störung, unter der junge Täter leiden. Auch Autismus, Depression, Störungen des Sozialverhaltens, Angststörungen, Schizophrenie, ADHS, Alkohol- und Drogenmissbrauch sowie Persönlichkeitsstörungen gehören zu den Auffälligkeiten.

Für die Kritiker sei angemerkt, dass es den Forschern keinesfalls darum ging, mit solchen Feststellungen die kriminellen Taten zu entschuldigen oder zu relativieren.

Sind härtere Strafen im Jugendstrafrecht eine Option?

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Abbildung : © Alexander Raths - Fotolia.com

Bleibt die Frage, ob härtere Strafen im Jugendstrafrecht eine der Lösungen des Problems sein könnten. Häufig herrscht nicht nur bei Jugendlichen das Vorurteil „Einmal Verbrecher - immer Verbrecher."

Doch das trifft auf jugendliche Intensivtäter nicht zu. Zu diesem Ergebnis kam jedenfalls eine Langzeitstudie des Instituts für Kriminalwissenschaften der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Zwölf Jahre lang haben die Forscher 3400 Duisburger zur Entwicklung ihres Strafverhaltens befragt. Zu Beginn waren die meisten von ihnen 13 Jahre alt.

Anders als oftmals vermutet, finden die meisten der jugendlichen Straftäter den Weg zurück in ein normales Leben. Wichtig sind dabei vor allem eine feste Beziehung und ein stabiles Arbeitsverhältnis. Schulen hingegen haben keinen großen Einfluss.

Häufig werden härtere Strafen gegen jugendliche Täter gefordert. Doch diese tragen keineswegs zur Lösung der Kriminalitätsproblematik bei. Zwar könne man nicht gänzlich darauf verzichten, so das Fazit der Forscher, jedoch sei weniger mehr.

Je härter die Strafe, desto höher das Rückfallrisiko. Offenbar führen härtere Strafen zu einer stärkeren aggressiven Gegenreaktion. Drakonische Strafen polarisieren also noch mehr und spitzen das Thema „Ich gegen den Rest der Welt" noch zu, weil sie als weitere Verletzung durch andere Menschen erlebt werden.

Wirksamer und auch kostengünstiger wären präventive Programme, die bei den Familien und Schulen ansetzen und auch die Medien mit in die Verantwortung nehmen.

Ohnmächtig sind wir nie!

Macht oder Ohnmacht ist nie eine Frage oder gar eine Option. Denn ohnmächtig sind wir nie. Wir müssen uns nur auf unsere Kräfte und auf unsere Werte besinnen - also auf das, was demokratische Gesellschaften zusammenhält: den Mut des Einzelnen, Mitgefühl, unseren Sinn für Gerechtigkeit, Toleranz und Hilfsbereitschaft, und gewalttätigen Tendenzen entschieden entgegentreten.

Unsere Gesellschaft braucht Menschen, die verantwortlich handeln und Risiken eingehen. Sie braucht aber auch Menschen, die die Verletzung der Täter verstehen und auf sie eingehen.

Der Artikel entstand unter Mitarbeit der Diplom-Psychologin Hedda Rühle.

Quelle: Sandra Maxeiner, Hedda Rühle (2014), Dr. Psych's Psychopathologie, Klinische Psychologie und Psychotherapie (Band 1, ISBN: 978-3-9523672-0-9, Band 2, ISBN: 978-3-9523672-1-6)

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