Kann sich noch jemand an das Geschrei um die Ukraine-Krise im Frühjahr 2014 erinnern? Als Millionen Deutsche tatsächlich glaubten, die Nato würde einen
Angriffskrieg gegen Russland vorbereiten?
Von
Truppenverlegungen war die Rede. Von geheimen Transporten durch Deutschland. Der Autor Jürgen Elsässer fantasierte von einer
„Endlösung der Russenfrage“. Und die Bundestagsfraktion der Linkspartei schürte angesichts eines harmlosen Nato-Manövers
Weltkriegsfantasien und Hass auf den ukrainischen Staat.
Ein halbes Volk hat sich damals in einen politischen Fieberwahn hineingesteigert. Ohne Grund. Ohne Sinn. Ohne Verstand.
Ein Ausspruch des Historikers Christopher Clark machte damals die Runde: Die Politiker des Westens seien 100 Jahre nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs wieder als „Schlafwandler“ durch die Geschichte unterwegs und liefen blindlings in ihr Unglück.
Damals war das ein ziemlicher großer Unsinn.
Heute könnte das schon eher stimmen.
Die europäische Friedensordnung löst sich auf
Denn vor unseren Augen löst sich derzeit eben jene politische Ordnung auf, die in den vergangenen 60 Jahren für Frieden auf den Kontinent gesorgt hat. Und den meisten Deutschen ist das derzeit entweder sehr willkommen oder herzlich egal. Wir schlafwandeln in eine neue politische Ordnung hinein, die alles sein wird, nur nicht stabiler und sicherer.
Europa. Es soll mittlerweile Verlage geben, die ihren Autoren verbieten, den Namen des Kontinents in ihre Buchtitel zu übernehmen, weil jeder Lektor im Geiste das Gähnen hört, das viele Leute in Bezug auf die EU und die „europäische Integration“ überkommt.
Kaum jemand in Deutschland mag noch so etwas wie Leidenschaft für Europa empfinden. Selbst jüngere Bürger, die als Interrail-Touristen und Erasmus-Studenten noch unmittelbar von den Errungenschaften eines zusammenwachsenden Europas profitieren könnten, fallen als glühende Euro-Patrioten mittlerweile weg.
Frieden und Freiheit sind allzu selbstverständlich geworden
Die Wahrheit ist: Uns langweilen Freiheit und Frieden. Der Grund dafür ist, dass die meisten von uns nie selbst erlebt haben, wie es ist, wenn die Freiheit verschwindet und der Frieden brüchig wird. All das ist allzu selbstverständlich geworden.
Man kann das im Großen beobachten: Als im Bundestag noch Abgeordnete saßen, die selbst die Folgen des nationalsozialistischen Völkermords erlebt haben, hatte das europäische Projekt noch eine Lobby.
Viele mögen früher über das Geschichtsverständnis von Helmut Kohl gelacht haben – aber sein Bekenntnis zu Europa war ehrlich und aufrichtig. Es entsprang seiner eigenen Biografie:
Kohls älterer Bruder Walter fiel Ende 1944 als Soldat bei einem Tieffliegerangriff im Kreis Recklinghausen. Er selbst wurde zum Flakhelfer ausgebildet, kam aber selbst nicht mehr zum Einsatz.
Schnapsidee von der Grenzschließung
Kohls Nach-Nachfolgerin als CDU-Vorsitzender zeigte sich lange Zeit leidenschaftslos, was das Thema Europa betrifft. Mehr noch. Womöglich hat Angela Merkels Griechenland-Politik sogar nachhaltig dafür gesorgt, Europa zu spalten.
Man kann es aber auch im Kleinen beobachten. Dort, wo die Menschen in Deutschland sich nach schnellen Lösungen sehnen. Die Schließung der Grenzen ist so eine dieser Schnapsideen, die derzeit Hochkonjunktur haben.
Es gibt kein humanes Mittel, mit dem man Menschen, die 2500 Kilometer unter Lebensgefahr durch Europa gereist sind, von einem Grenzübertritt abhalten kann.
Ein neuer Eiserner Vorhang?
Ein Schlagbaum jedenfalls wird diese Leute sicherlich nicht aufhalten. Die Konsequenz aus dieser ach so einfachen Forderung kann nur sein, die etwa 2500 Kilometer lange Ost- und Südostgrenze der Bundesrepublik mit Stacheldraht, Panzersperren und den von Frauke Petry (
AfD)
ins Spiel gebrachten Grenzschützen auszurüsten. Der Eiserne Vorhang war schließlich die einzige Grenzanlage in der jüngeren Geschichte, die Migrationsströme dauerhaft unterbinden konnte.
Aber wurde die europäische Integration einst nicht auch deswegen angestoßen, damit wir nie wieder aufeinander schießen müssen?
Sicher ist: Der nationale Egoismus ist längst in der Welt. Nicht nur in Deutschland.
Besonders deutlich wird das in den EU-Staaten Osteuropas. Deren Regierungen haben in den vergangenen zwölf Jahren prächtig von den EU-Fördermitteln profitiert. Diese Form von Solidarität war in Budapest, Warschau und Prag stets willkommen.
Falsches Spiel der osteuropäischen Regierungen
Doch jetzt, wo Millionen Menschen an den Außengrenzen der EU auf der Flucht sind und dringender denn je eine gesamteuropäische Lösung vonnöten wäre, haben die Staatschefs der Visegrad-Gruppe (Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn) nichts besseres zu tun als mit dem Finger auf
Angela Merkel zu zeigen.
Sie habe „die Flüchtlinge nach Europa eingeladen“.
Das ist erstens erstunken und erlogen (Merkel sagte jene von den Kritikern umgedeuteten Sätze erst, als bereits Hunderttausende Flüchtlinge in der EU angekommen waren – zum Beispiel am Budapester Bahnhof Keleti, wo Tausende unter den Augen der Polizei hungerten und dursteten) und zweitens zeugt es von einem fatalen Verständnis von Europa: Dass nämlich nach bestem egomanischem Weltbild jedem am besten gedient sei, wenn alle zuerst für sich selbst sorgten.
Europa ist zersplittert
Das alles hatten wir schon mal. Und nicht nur einmal. Gerade in Europa.
Der Kontinent ist so zersplittert in Mittel- und Kleinstaaten wie kaum ein Landstrich sonst wo auf dem Erdball. Budapest, Wien und Bratislava sind die drei am nächsten zusammenliegende Hauptstädte der Welt. Auf dem Balkan oder in Westeuropa sieht es kaum anders aus. Kein Wunder, dass gerade hier die Decke der Zivilisation so dünn war. Das europäische Projekt war eine Antithese zu tausend Jahren Gewalt.
Und nun wollen wir das alles aufgeben? Nur, weil es gerade opportun erscheint?
Wir haben verlernt, Europa zu lieben. Und schlimmer noch: Wir wissen noch nicht einmal, was uns dabei fehlt. Leider werden wir es noch früh genug merken, was wir gerade aus Langeweile verzocken. Wir Schlafwandler.
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