Quantcast
Channel: Germany
Viewing all articles
Browse latest Browse all 24594

Expertin nennt Warnung vor Migrationswelle "unseriös"

$
0
0
Es klingt nach nervtötendem juristischem Kleinklein mit Gähn-Potenzial: Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen hat am 28. November eine winzige Passage im deutschen Gesetz für europarechtswidrig befunden: § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Sozialgesetzbuch II. (Aktenzeichen: L 6 AS 130/13 - nicht zu verwechseln mit einem Urteil des gleichen Gerichts zu vom 10. Oktober zu einem ähnlichen Fall mit Aktenzeichen L 19 AS 129/13)

Tatsächlich wähnen manche dahinter die Apokalypse des Sozialstaats. Denn was die Juristen da beschlossen haben, heißt im Klartext: Deutschland darf wegen des EU-Rechts auf Gleichbehandlung keinem EU-Bürger so mir nichts dir nichts Hartz IV verweigern, wenn er hier arbeitslos ist und nach einem Job sucht. Besonders brisant wirkt das vor dem Hintergrund, dass die die volle Freizügigkeit ab 2014 auch für die Bürger aus den armen EU-Ländern Rumänien und Bulgarien gilt.

Der Chef des Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung in München, Hans-Werner Sinn sieht darin den „Beginn einer neuen Migrationswelle“.

Experte erwartet kaum Auswirkungen in der Praxis

Aber sind die Befürchtungen tatsächlich berechtigt? In dieser Form nicht, meinen Experten.

Zunächst einmal ist das Urteil nicht rechtskräftig. Wegen seiner grundlegenden Bedeutung wird darüber noch das Bundessozialgericht verhandeln. „Falls es rechtskräftig werden sollte, wird es voraussichtlich Jahre dauern“, sagt Herbert Brücker, Migrationsexperte des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB).

Derzeit gilt nach Auskunft der Bundesagentur für Arbeit: EU-Ausländer, die volle Freizügigkeit genießen – ab 2014 also alle – dürfen nur nach Deutschland kommen, wenn sie auch ohne Arbeit ohne staatliche Hilfe auskommen oder wenn sie Arbeit haben. Nach einem viertel Jahr haben sie Anspruch auf Hartz IV, wenn sie ihren Job verlieren aber weiter arbeiten wollen und können. Die Regelung entstand nach langem Hin und Her, in dem die Bundesregierung versuchte, EU-Gesetze auszuhebeln.

Wenn das NRW-Urteil tatsächlich in Kraft träte, würde das die bisherige Regelung allerdings nicht vollkommen ändern, meint Brücker. Schließlich besage es nicht, dass jeder EU-Bürger automatisch Hartz IV bekomme. „Es besagt, dass ein prinzipieller Ausschluss von Leistungen für Arbeitssuchende nicht gerechtfertigt ist.“ Es müsse also wieder jeder Einzelfall geprüft werden. „Ich gehe davon aus, dass der Rechtsrahmen dann so präzisiert wird, dass in den meisten Fällen keine Leistungen gewährt werden.“ Das wäre aus Brückers Sicht auch konform mit dem EU-Recht, das gewisse Spielräume zum Schutz vor Sozialmissbrauch lässt.

Anreiz soziale Sicherheit

Dass Leistungen Anreize zum Zuzug bieten, steht außer Frage. Als zum Beispiel das Bundesverfassungsgericht im vergangenen Jahr urteilte, die Leistungen für Asylbewerber müssten angehoben werden, hatte das einen enormen Anstieg von letztlich erfolglosen Anträgen aus armen Nicht-EU-Staaten zur Folge, vor allem aus Mazedonien und Serbien. In Bezug auf den konkreten Fall sagt Herwig Birg, Professor für Bevölkerungswissenschaft an der Universität Bielefeld. „Für die ärmsten der Armen wäre das Urteil eine Einladung. Bevor man menschenunwürdig lebt, versucht man, das zu ändern, wenn man kann.“

"Tor weiter offen, aber nicht himmelweit"

Da bleibt die Frage, wie gut Deutschlands Sozialsystem mit einer steigenden Zahl an Berechtigten zurechtkäme. Birg warnt, das Sozialsystem sei ohnehin überlastet, die Situation könnte sich durch die Zuwanderung weiter verschärfen.

Brücker sieht das entspannter: „Mit dem Urteil würde das Tor für den Bezug von Leistungen weiter aufgestoßen – aber nicht himmelweit“, sagt Brücker. „Insofern ist die Entwicklung nicht ganz so dramatisch wie sie oft dargestellt wird – man sollte da die Kirche im Dorf lassen." Ähnlich argumentiert Franziska Woellert vom Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung: „Aufgrund des jüngsten Einzelfallurteils jetzt vor einer Welle von Armutszuwanderung zu warnen, halte ich für unseriös.“

Woellert zufolge ist Armut nur für eine Minderheit der Zuwanderer ein Motiv, „die meisten sind Hochqualifizierte und Fachkräfte, die hier dringend gebraucht werden“. Und diese Minderheit, ist sich Woellert sicher, werde Deutschland als Ganzes nicht überlasten. Dort, wo sich diese Minderheiten allerdings ballen, kann das für die Kommunen sehr wohl ein Problem werden.

Sozialstaat gewinnt offenbar durch Migranten

Nach Brückers Recherchen lag der Anteil der Empfänger von Hilfen nach dem Sozialgesetzbuch II unter Bulgaren und Rumänen Ende 2012 bei 9,3 Prozent – das ist etwas mehr als unter Deutschen (7,4 Prozent) und wesentlich weniger als unter Ausländern (15,9 Prozent).

Insgesamt, bilanziert Brücker, entstehen dem deutschen Sozialstaat Gewinne durch die Migranten, sie zahlten etwa mehr in die Rentenversicherung ein als sie vermutlich wieder ausgezahlt bekämen. „Unter Berücksichtigung aller Einzahlungen und Auszahlungen ergibt sich insgesamt ein positiver Nettobeitrag der in Deutschland lebenden Migranten.“

Viewing all articles
Browse latest Browse all 24594

Trending Articles



<script src="https://jsc.adskeeper.com/r/s/rssing.com.1596347.js" async> </script>