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Langweilodrom Bundestag

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Schon der Anblick des Bundestags fördert die Politikverdrossenheit. Das darf nicht so bleiben, denn es geht auch anders.

Viele leere Abgeordnetensitze, die Kanzlerin und andere schreiben SMS, Trittin liest Zeitung, manche schwätzen miteinander oder telefonieren, was ist denn das für ein schrecklicher Anblick und warum wählen wir so einen Bundestag überhaupt noch?

Die Ausflüchte und Erklärungsversuche der Parlamentarier lauten „Abgeordnete arbeiten schließlich auch in Parlamentsgremien und die Reden der Kollegen zum betreffenden Thema kennen wir doch schon aus den Ausschusssitzungen, die Kanzlerin und die Minister müssen immer erreichbar sein". So oder so ähnlich lauten die Kommentare zur Parlamentskritik.

Wo bleiben in dem „hohen Haus" die einfachsten Benimmregeln? Wer will die Rede eines Bundestagsmitglieds noch ernst nehmen, wenn die Regierungsbank schon nicht zuhört, wer will die Kritik des Oppositionschefs an der Regierung hören, wenn die Kanzlerin mit dem Handy beschäftigt ist oder mit Gabriel im Gespräch vertieft ist? Wer will den 631 Parlamentsmitgliedern an den 70 Sitzungstagen pro Jahr überhaupt noch bei der Arbeit zusehen? Wer erträgt dieses erbärmliche Bild der Disziplinlosigkeit?

Einmal liegt das natürlich an den Rednern. Wir erinnern uns an die packenden Duelle von Franz Josef Strauß mit Herbert Wehner, Willy Brandt mit Rainer Barzel und der gekonnten Ironie eines Joschka Fischer. Ja, Gregor Gysi kann noch packend reden, wenn man mal die Inhalte beiseite schiebt. Aber was bietet uns die sanfte Kathrin Göring-Eckardt, der Bergbauernprediger Anton Hofreiter, der durch das Regierungsamt jovial gewordene Sigmar Gabriel und die kühle Angela Merkel, die sachbezogene Politik macht und auch genauso emotionslos spricht.

Kein Wunder, dass sich die politische Diskussion aus dem Parlament weg ins Fernsehen verlagert hat. Fast täglich bringen die öffentlich-rechtlichen eine Polit-Talkshow oder sogar zwei. An so manchem Tag hat man dabei ein Deja-vu Erlebnis. Sind es nicht immer die gleichen 10 Politiker und die gleichen Themen? Trotz Überfrachtung mit Talkshows, lebendiger und gesitteter als der Bundestag sind die Talkrunden allemal.

Dabei geht es doch auch anders. Schon mal eine Debatte im britischen Parlament gesehen? Regierung und Opposition sitzen sich nur durch einen Tisch getrennt Auge in Auge direkt gegenüber, kein blättern in Aktenbergen, keine Handys, keine Zeitungen. Statt dessen aufregende Debatten mit viel Spontanität, einfach spannend für den Zuschauer. Wenn es in Großbritannien ohne Telefone, Zeitungen und Tablets geht, warum dann nicht bei uns?

Unser Bundestag, und dies ist an Bundestagspräsident Lammert gerichtet, braucht dringend ein anderes Erscheinungsbild mit neuen Spielregeln oder man findet sich mit der Politikverdrossenheit ab.

Ich jedenfalls wünsche mir ein lebendiges Parlament, das sich an Benimmregeln hält, sich auf die Debatten konzentriert, die Meinungen der Anderen respektvoll anhört, einen lebhaften Meinungsaustausch, auch mal im Minutentakt ermöglicht und die langatmigen, vom Blatt abgelesenen vorgefertigten Reden zurückdrängt, denn die kann man auch im Internet veröffentlichen. Hauptsache, das erstarrte Ritual wird aufgebrochen.

Die Wähler brauchen zu ihrer Meinungsbildung einen Einblick in die Parlamentsarbeit, dieses Feld muss sich die Politik von den Talkshows zurück erobern. Würde man von den 70 Sitzungstagen jeweils einen Zusammenschnitt von bis zu 30 Minuten im Abendprogramm miterleben können, verbunden mit einer Einführung in das Thema und einer Zusammenfassung durch den Moderator, könnte man auf manche Talkshow verzichten.

Ja, ich möchte gerne wieder stolz auf unser Parlament und unsere Abgeordneten sein!

Günter Morsbach
Herausgeber „Reitender Bote -
die kürzeste Wochenzeitung der Welt"
www.reitender-bote.de
0172-3616509

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