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Brasiliens großes WM-Vermächtnis

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Sie verkauften hausgemachte Eiscreme, arbeiteten als Erntehelfer oder durchsuchten die Straßen nach Wertstoffen. Nach der Schule traf ich diese jungen, trickreichen Fußballspieler auf dem durchlöcherten Bolzplatz von nebenan, der nur um das Mittelfeld noch einige einsamen Grashalme aufwies. Wir kamen uns vor wie im Maracanã-Stadion zu Zeiten der Stehplätze: ein demokratischer Sehnsuchtsort, an dem soziale Herkunft keine Rolle spielte. Da die meisten sich keine Fußballschuhe leisten konnten, kickten wir alle barfuß.

So kurz vor WM-Anpfiff frage ich mich manchmal, ob diese Jungs ihre gelben Trikots der Seleção bereits angezogen haben. Oder ob sie dem Turnier, so wie 42% der Befragten einer jüngsten repräsentativen Umfrage, eher gleichgültig gegenüber stehen. Einiges spricht dafür. Man denke an einen gemeinnützigen Verein namens FIFA, der mit seinen Vorschriften, Lizenzen und Bedingungen ein ganzes Land erpresst und dabei weitgehend steuerfreie Einnahmen von rund drei Milliarden Euro einnimmt. Straßenverkäufer dürfen ihre traditionellen Gerichte nicht mehr vor den Stadien verkaufen und der brasilianische Staat musste sich verpflichten, entschlossen gegen unerwünschte Demonstranten vorzugehen.

Hinzu kommt eine größenwahnsinnige Regierung, die die teuerste WM aller Zeiten organisiert. Milliardenschwere Investitionen werden in eine sportliche Infrastruktur getätigt, die - Bauunternehmer, Investmentbanken und einige Bürokraten mal ausgenommen - der Bevölkerung keinerlei Nutzen bringen werden. Luxusausgaben eines bizarren Zirkus.

Ein generalisierter Unmut gegenüber der Regierung

Die Fußballweltmeisterschaft und die anstehenden Präsidentschaftswahlen offenbaren eine tiefe Werte- und Repräsentationskrise der brasilianischen Gesellschaft. Die seit fast 12 Jahren regierende Arbeiterpartei (PT) mag unumstrittene wirtschaftliche und gesellschaftspolitische Verdienste für sich in Anspruch nehmen. Durch umfangreiche Sozialprogramme auf lokaler und nationaler Ebene wurden die extreme Armut bekämpft und die sozialen Aufstiegsmöglichkeiten gefördert. Fortschritte bei der Schaffung neuer staatlicher Universitäten, technischer Schulen und Studienstipendien wurden erzielt.

Doch die PT-Regierung ist unter der Fahne der Gerechtigkeit, der Moral und hoher Grundsätze angetreten und hat gleichzeitig Korruption in unvorstellbarem Maß betrieben. Die Enttäuschung über eine korrupte politische Klasse, die sich jahrzehntelang von der Bevölkerung abschirmt, mischt sich mit der Ohnmacht gegenüber einer nicht legitimierten FIFA-Herrschaft. Es ist gefährlich, wenn eine Gesellschaft keine Vorbilder erkennen kann und der Sozialvertrag in Frage gestellt wird. Das einzig Greifbare scheint ein generalisierter Unmut gegenüber der Politik, gegenüber einer in der Militärdiktatur verankerten Polizei oder dem Weltfußballverband zu sein.

Anstatt ihre Häuser grün-gelb zu schmücken, nutzen die unterschiedlichsten sozialen Gruppen die internationale Aufmerksamkeit um ihren aufgestauten Frust auf den Straßen zu entladen. Guilherme Boulos, Anführer der Obdachlosenbewegung, bringt es auf den Punkt: „Entweder bekommen wir jetzt was wir wollen, oder nie." Nur vier Kilometer vom WM-Eröffnungsstadium in São Paulo errichtete er zusammen mit Tausenden von Obdachlosen ein Lager aus Brettern und Plastikplanen und taufte es „Copa do Povo" (WM des Volkes). In Rio streikten die Straßenkehrer für ein höheres Gehalt. Der 84-jährige, weltbekannte Indianerhäuptling Raoni stieg mit ca. 500 Repräsentanten indigener Ethnien auf das Dach des Abgeordnetenhauses in der Hauptstadt Brasília, um für die Demarkation indianischer Schutzgebiete und mehr Umweltschutz zu demonstrieren. Bundesweit legen Busfahrer, Lehrer, Polizisten, Metroangestellte und Anhänger der Landlosenbewegung weite Teile des Landes lahm. Eine empörte Mittelschicht protestiert gegen die Verschwendung ihrer Steuergelder.

Die neue Bürgergesellschaft

Im Zuge der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes entstand eine neue Bürgergesellschaft, die die Abschottung der Regierung gegenüber gesellschaftlichen Bedürfnissen nicht mehr hinnehmen möchte. Das Großereignis WM wirkt dabei wie ein Katalysator für einen neuen Demokratisierungszyklus in Brasilien. Es eröffnet eine Debatte über eine andere Gesellschaftsform, unter der die Politik näher an die Basis rückt und die Erfahrung einer lebhaften Demokratie ermöglicht. Das vertikale Repräsentationsmodell, das ausschließlich über formale Institutionen wie Wahlen oder Gewerkschaften funktioniert, ist an seine Grenzen gestoßen. Die brasilianische Gesellschaft verlangt, über das Wahljahr hinaus wahrgenommen und befragt zu werden. Die Demokratie muss in den Alltag der Bevölkerung eingegliedert werden, so dass die individuelle politische Handlungsfähigkeit wiederhergestellt wird.

Ich bin davon überzeugt, dass meine Mitspieler vom Bolzplatz ihre Wetten auf den WM-Torschützenkönig schon längst abgeschlossen haben. Mit dem Anpfiff des Eröffnungsspiels wird die angebliche Gleichgültigkeit des selbsternannten „Vaterlandes der Fußballschuhe" in Begeisterung übergehen. Schließlich ist Fußball ein Teil der gemeinsamen brasilianischen Identität und die große Mehrheit der Bevölkerung steht hinter ihrer Seleção. Nach dem letzten Torjubel werden jedoch die teuren WM-Arenen noch lange an die Verschwendung öffentlicher Gelder erinnern.

Die wichtigste Bürgermobilisierung seit der Demokratisierungsbewegung vor 31 Jahren wird in Brasilien nicht verhallen. Forderungen nach institutioneller Gerechtigkeit und der „Demokratisierung der Demokratie" werden ihren Weg auf die Straßen weiterhin finden. Ein großes Vermächtnis einer umstrittenen Fußballweltmeisterschaft.

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