Es fehlen nur noch wenige Tage bis zu Brasiliens Debüt der Fußball-Weltmeisterschaft, doch in den Straßen Rios ist kaum Vorfreude auf das Eröffnungsspiel gegen Kroatien zu spüren. Dass diese WM, die 2007 bei der Bekanntgabe des Gastgeberlandes noch das Event des Jahrzehnts zu werden schien, nicht mehr dieselbe sein würde, ließ sich schon in den letzten Monaten, eigentlich seit dem größten Protest im Juli des vergangenen Jahres während des Federationscup ablesen. Doch selbst jetzt, so kurz vor den Spielen, deuten nur die Plakate der großen Firmen und die Werbespots im Hauptkanal Globo auf das Massenmedienevent in dem Land des Sambas, der knappen Bikinis und der genialen Strände hin, nicht einmal die Straßen sind mit grün-gelb-blauen Fahnen geschmückt.
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Früh morgens an der Copacabana in Rio de Janeiro
Um zu verstehen, warum die Brasilianer dieses mal nicht von ihrem emotionalen Verhältnis zum Fußball geblendet werden, muss man erst einmal die Hintergründe kennenlernen. Die Brasilianer haben es satt: Seit dem ökonomischen Höhepunkt in 2007 und der WM-Bekanntgabe, sind nicht nur die Preise der Lebensmittel und Kleidung, sondern vor allem die der Immobilien drastisch, in manchen Fällen sogar um 100 Prozent gestiegen - dasselbe kann von den Einkommen nicht gesagt werden. Der Durchschnittsbrasilianer, der sich durch den wirtschaftlichen Boom einen höheren Lebensstandard erarbeiten konnte, ist nicht mehr bereit, das schlechte Preis-Leistungs-Verhältnis, das das eigene Land ihm bietet, anzunehmen. Neben der schlechten Infrastruktur, die das alltägliche Leben jedes Brasilianers beeinträchtigt, lassen auch die öffentlichen Krankenhäuser und öffentliche Sicherheit zu wünschen übrig.
Zu der wenig festlichen Stimmung tragen auch die Proteste derjenigen bei, die das Land tragen bzw. stützen sollten: Polizisten, Lehrer, Busfahrer usw. kämpfen in den Tagen vor der WM um höhere Bezahlung - verdientermaßen. Geschickt nutzen sie die letzten Tage vor dem Event, ihr Ziel, eine angemessene Bezahlung zu erhalten, durchzusetzen. Ein Protest wie der des letzten Jahres ließe sich nicht gut mit den Interessen der Vertretung des Landes vereinbaren. Doch eine Garantie für eine protestlose Zeit gibt es nicht. Kein friedlicher Protestant, der ein Ziel verfolgt, wird sich die Chance in der WM, die Aufmerksamkeit der Medien zu erhalten, nehmen lassen. Leider gibt es immer Chaoten oder auch Provokateure, die die friedliche Intention des Protests infrage stellen und die Situation sich schnell in einen Straßenkampf zwischen Gasbomben werfenden Polizisten und Wut entladenen Individuen verwandelt.
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Dieses Graffiti an dem Eingang der Favela Catete in Rio de Janeiro spiegelt die Meinung vieler Brasilianer wieder.
Nicht nur die nicht geschehenen Verbesserungen des alltäglichen Lebens stehen bei den Protesten im Vordergrund. In dem Land der Absurditäten ist vieles, das zur WM geplant wurde, bis heute in Rio nicht fertig geworden: der Ausbau der Metro, neue Terminals des Flughafens, Straßen usw.. Dennoch sollte auch erwähnt werden, dass viele längst überfällige Investitionen mit der Begründung dieses Sport-Events getätigt und einige Dinge, wie z.B. die Praça da Bandeira in Rio, die bei starkem Regen komplett überflutet wurden und Autos unter 2 Meter Wasser nicht mehr zu sehen waren, verbessert wurden.
Diese WM wird immer stärker politisch instrumentalisiert. Die meisten Brasilianer, die sonst die Fußballnation schlecht hin vertreten, möchten nicht einmal die brasilianische Nationalmannschaft gewinnen sehen. Viele sind der Meinung, dass die Politiker später den Sieg und die damit verbundenen positiven Emotionen bei der Präsidentenwahl, die im Oktober dieses Jahres stattfinden wird, missbrauchen und sagen werden: Uns Brasilianern geht es doch gut. Das Erstaunliche daran vor allem ist, dass in diesem Fall die Meinung in allen sozialen Schichten verbreitet ist. Selbst die Bürger mit wenig Bildung sind mit den Ausgaben für moderne Stadien statt der Verbesserung des Bildungs- und Gesundheitswesens und der Bekämpfung der Korruption und der Gewalt nicht glücklich. Vor allem da sie, die Hausangestellte, Supermarktverkäufer, Tankstellenwarte usw. es sind, die morgens um 4 aufstehen, manchmal bis zu einer Stunde Wartezeit und 2 oder 3 Stunden lange Busfahrten und Staus auf sich nehmen müssen, um rechtzeitig am Arbeitsplatz anzukommen. Der Brasilianer ist aufgewacht - aufgewacht von dem Schlaf der Passivität. Längst hat er begriffen, dass sich nur durch aktives Handeln etwas im Land verändern kann. Das heißt nicht, dass das soziale Bewusstsein oder besser gesagt der Gedanke des Allgemeinwohls schon verbreitet ist, aber der Brasilianer ist in der Transition zu einem wahren Demokraten auf einem guten Weg.
Schon vor Jahren fingen die Brasilianer an, wenn die Missstände wie das schlechte Bildungssystem oder die Schere zwischen Arm und Reich im Land zur Sprache kamen, zu sagen: Imagina na copa, stell dir das mal während der WM vor. Damals wurden die absurdesten Geschichten wie die Fälschung des WM-Pokals oder der Einsturz des Stadiums scherzhaft vor Augen geführt. Heute ist es schwierig, seine Meinung, war sie vorher zynisch, aber spielerisch, frei zu äußern, viel zu angespannt ist die Situation. Das heißt, wenn die Meinung positiv zur WM gestimmt ist... Es ist nun schon so weit, dass ehemalige Fußballspieler, die sich in den vergangenen Wochen zu den Protesten und der Haltung der Bevölkerung hinsichtlich der WM geäußert haben, mit starken Reaktionen der Bürger konfrontiert wurden. Ronaldo „Phenomeno", der 2002 im gelben Trikot Weltmeister wurde, kommentierte zuletzt, dass die „Scheiß Vandalen verprügelt werden sollen", woraufhin Demonstranten vor den Toren seiner Firma 9nine WPP Schimpfgesänge starteten. Das Volk wolle keine Stadien, sondern Bildung und Gesundheit. Der Spieler reagierte mit einem langen Text auf seiner Facebook Seite und betonte, dass er nicht gegen die Demonstrationen, sondern den Vandalismus sei. Allerdings seien Politik und Sport für ihn zwei komplett zu trennende Terrains und er appellierte an das Volk, die eigenen Spieler bei so einem seltenen und wichtigen Event zu unterstützen und dann bei den Wahlen die Meinung über die Regierung durch das Wahlergebnis sprechen zu lassen.
Das „imagina na copa" ist jetzt ein Annehmen der extremsten Maßnahmen geworden. Lauter mögliche Szenarien werden von den Bürgern in die Runde geworfen: von Bandenkriegen oder Kämpfe zwischen Banditen und Polizisten, welche nicht unüblich sind, bis hin zu Streiks, die die Stadt lahmlegen oder die Besetzung Rios durch das Militär zum Schutz der Fußballer.
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Das Maracanã Stadion während eines Spiels der Clubs Flamengo und Fluminense in Rio
Spannend wird der Verlauf in den kommenden Tagen auf jeden Fall bleiben. Die Brasilianer dürfen einen Monat der zur WM geplanten Ferien genießen. Wer weiß, am Ende können sie doch wie immer mit ihrem „jeitinho" die schlimmste Ausgangssituation in eins der besten Highlights verwandeln und den Fußball-Touristen mit einem ordentlichen Fest und ihrer unglaublichen Gastfreundschaft um den Finger wickeln.

Früh morgens an der Copacabana in Rio de Janeiro
Um zu verstehen, warum die Brasilianer dieses mal nicht von ihrem emotionalen Verhältnis zum Fußball geblendet werden, muss man erst einmal die Hintergründe kennenlernen. Die Brasilianer haben es satt: Seit dem ökonomischen Höhepunkt in 2007 und der WM-Bekanntgabe, sind nicht nur die Preise der Lebensmittel und Kleidung, sondern vor allem die der Immobilien drastisch, in manchen Fällen sogar um 100 Prozent gestiegen - dasselbe kann von den Einkommen nicht gesagt werden. Der Durchschnittsbrasilianer, der sich durch den wirtschaftlichen Boom einen höheren Lebensstandard erarbeiten konnte, ist nicht mehr bereit, das schlechte Preis-Leistungs-Verhältnis, das das eigene Land ihm bietet, anzunehmen. Neben der schlechten Infrastruktur, die das alltägliche Leben jedes Brasilianers beeinträchtigt, lassen auch die öffentlichen Krankenhäuser und öffentliche Sicherheit zu wünschen übrig.
Zu der wenig festlichen Stimmung tragen auch die Proteste derjenigen bei, die das Land tragen bzw. stützen sollten: Polizisten, Lehrer, Busfahrer usw. kämpfen in den Tagen vor der WM um höhere Bezahlung - verdientermaßen. Geschickt nutzen sie die letzten Tage vor dem Event, ihr Ziel, eine angemessene Bezahlung zu erhalten, durchzusetzen. Ein Protest wie der des letzten Jahres ließe sich nicht gut mit den Interessen der Vertretung des Landes vereinbaren. Doch eine Garantie für eine protestlose Zeit gibt es nicht. Kein friedlicher Protestant, der ein Ziel verfolgt, wird sich die Chance in der WM, die Aufmerksamkeit der Medien zu erhalten, nehmen lassen. Leider gibt es immer Chaoten oder auch Provokateure, die die friedliche Intention des Protests infrage stellen und die Situation sich schnell in einen Straßenkampf zwischen Gasbomben werfenden Polizisten und Wut entladenen Individuen verwandelt.

Dieses Graffiti an dem Eingang der Favela Catete in Rio de Janeiro spiegelt die Meinung vieler Brasilianer wieder.
Nicht nur die nicht geschehenen Verbesserungen des alltäglichen Lebens stehen bei den Protesten im Vordergrund. In dem Land der Absurditäten ist vieles, das zur WM geplant wurde, bis heute in Rio nicht fertig geworden: der Ausbau der Metro, neue Terminals des Flughafens, Straßen usw.. Dennoch sollte auch erwähnt werden, dass viele längst überfällige Investitionen mit der Begründung dieses Sport-Events getätigt und einige Dinge, wie z.B. die Praça da Bandeira in Rio, die bei starkem Regen komplett überflutet wurden und Autos unter 2 Meter Wasser nicht mehr zu sehen waren, verbessert wurden.
Diese WM wird immer stärker politisch instrumentalisiert. Die meisten Brasilianer, die sonst die Fußballnation schlecht hin vertreten, möchten nicht einmal die brasilianische Nationalmannschaft gewinnen sehen. Viele sind der Meinung, dass die Politiker später den Sieg und die damit verbundenen positiven Emotionen bei der Präsidentenwahl, die im Oktober dieses Jahres stattfinden wird, missbrauchen und sagen werden: Uns Brasilianern geht es doch gut. Das Erstaunliche daran vor allem ist, dass in diesem Fall die Meinung in allen sozialen Schichten verbreitet ist. Selbst die Bürger mit wenig Bildung sind mit den Ausgaben für moderne Stadien statt der Verbesserung des Bildungs- und Gesundheitswesens und der Bekämpfung der Korruption und der Gewalt nicht glücklich. Vor allem da sie, die Hausangestellte, Supermarktverkäufer, Tankstellenwarte usw. es sind, die morgens um 4 aufstehen, manchmal bis zu einer Stunde Wartezeit und 2 oder 3 Stunden lange Busfahrten und Staus auf sich nehmen müssen, um rechtzeitig am Arbeitsplatz anzukommen. Der Brasilianer ist aufgewacht - aufgewacht von dem Schlaf der Passivität. Längst hat er begriffen, dass sich nur durch aktives Handeln etwas im Land verändern kann. Das heißt nicht, dass das soziale Bewusstsein oder besser gesagt der Gedanke des Allgemeinwohls schon verbreitet ist, aber der Brasilianer ist in der Transition zu einem wahren Demokraten auf einem guten Weg.
Schon vor Jahren fingen die Brasilianer an, wenn die Missstände wie das schlechte Bildungssystem oder die Schere zwischen Arm und Reich im Land zur Sprache kamen, zu sagen: Imagina na copa, stell dir das mal während der WM vor. Damals wurden die absurdesten Geschichten wie die Fälschung des WM-Pokals oder der Einsturz des Stadiums scherzhaft vor Augen geführt. Heute ist es schwierig, seine Meinung, war sie vorher zynisch, aber spielerisch, frei zu äußern, viel zu angespannt ist die Situation. Das heißt, wenn die Meinung positiv zur WM gestimmt ist... Es ist nun schon so weit, dass ehemalige Fußballspieler, die sich in den vergangenen Wochen zu den Protesten und der Haltung der Bevölkerung hinsichtlich der WM geäußert haben, mit starken Reaktionen der Bürger konfrontiert wurden. Ronaldo „Phenomeno", der 2002 im gelben Trikot Weltmeister wurde, kommentierte zuletzt, dass die „Scheiß Vandalen verprügelt werden sollen", woraufhin Demonstranten vor den Toren seiner Firma 9nine WPP Schimpfgesänge starteten. Das Volk wolle keine Stadien, sondern Bildung und Gesundheit. Der Spieler reagierte mit einem langen Text auf seiner Facebook Seite und betonte, dass er nicht gegen die Demonstrationen, sondern den Vandalismus sei. Allerdings seien Politik und Sport für ihn zwei komplett zu trennende Terrains und er appellierte an das Volk, die eigenen Spieler bei so einem seltenen und wichtigen Event zu unterstützen und dann bei den Wahlen die Meinung über die Regierung durch das Wahlergebnis sprechen zu lassen.
Das „imagina na copa" ist jetzt ein Annehmen der extremsten Maßnahmen geworden. Lauter mögliche Szenarien werden von den Bürgern in die Runde geworfen: von Bandenkriegen oder Kämpfe zwischen Banditen und Polizisten, welche nicht unüblich sind, bis hin zu Streiks, die die Stadt lahmlegen oder die Besetzung Rios durch das Militär zum Schutz der Fußballer.

Das Maracanã Stadion während eines Spiels der Clubs Flamengo und Fluminense in Rio
Spannend wird der Verlauf in den kommenden Tagen auf jeden Fall bleiben. Die Brasilianer dürfen einen Monat der zur WM geplanten Ferien genießen. Wer weiß, am Ende können sie doch wie immer mit ihrem „jeitinho" die schlimmste Ausgangssituation in eins der besten Highlights verwandeln und den Fußball-Touristen mit einem ordentlichen Fest und ihrer unglaublichen Gastfreundschaft um den Finger wickeln.